Wie sieht das Leben in einer Kollektivunterkunft aus?

Wer wohnt eigentlich in einer Kollektivunterkunft und wie funktioniert das Zusammenleben dort? Was erleben Kinder in ihrem neuen Alltag und wie sieht es in der Schule aus? Was wollten die Macher*innen des Wimmelbuchs in den Bildern deutlich machen? Und: Wie realistisch wird der Alltag einer Kollektivunterkunft im Wimmelbuch dargestellt und an welchen Stellen phantasiert die Illustratorin von einer unbeschwerteren Welt? Hier findest du Antworten von:

  • Sofiia Borshch: Illustratorin des Wimmelbuchs und Klassenassistentin an der Schule der temporären Unterkunft Viererfeld in Bern (TUV) und Kollektivunterkunft Tiefenau
  • Pascale Pfeiffer: Schulleiterin TUV und Kollektivunterkunft Tiefenau
  • Francesca Chukwunyere: Betriebsleiterin TUV

Die Hintergrundinfos in den FAQ zum Wimmelbuch «Zwischen Welten» können im Unterricht genutzt werden und natürlich auch zu Hause, wenn beim Anschauen der Wimmelbilder Fragen auftauchen.

Fragen zum Wimmelbuch

Sofiia: Es begann mit einer einfachen Skizze – ich zeichnete meinen Kollegen an der Schule der Temporären Unterkunft Viererfeld in einem ruhigen Moment, nur so zum Spass. Pascale, die Schulleiterin, sah es und schlug mir vor, eine ganze Serie solcher Skizzen zu erstellen. Diese kleine Idee wuchs weiter, und mit der Zeit wurde daraus dieses Wimmelbuch. Dahinter stand auch der Wunsch, das Leben in Kollektivunterkünften aus einer anderen Perspektive zu zeigen – nicht nur als etwas Schwieriges, sondern als einen Ort voller Geschichten, Begegnungen und stiller Momente. Ich wollte ein Buch schaffen, das sich lebendig anfühlt – bunt und chaotisch.
Francesca: Ich hatte mir schon länger überlegt, wie man den Mikrokosmos, der sich in unserer «Siedlung» abspielt, auf eine Art und Weise einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen könnte, die das zutiefst Menschliche abbildet, das sich hier im Kleinen abspielt – fernab der grossen politischen Diskussionen um Migration. Pascale hat mir dann Zeichnungen von Sofiia gezeigt, die mich unweigerlich an Janosch und seine Tigerente erinnert haben und sie brachte die Idee zum Wimmelbuch – ich war sofort begeistert davon.

Pascale: Dass eine Kollektivunterkunft ein «normaler» Ort ist, der lebt bzw. an dem gelebt wird. Es gibt viele schwierige und traurige Dinge, aber auch unzählige schöne, komische, lustige Momente. Weil dies alles so eng aufeinander passiert, ist das Konzentrat an Geschichten und Begebenheiten hier dichter als anderswo.
Sofiia: Ich wollte die kleinen, oft unbemerkten Dinge hervorheben: wie Menschen ihren Tag gestalten, Routinen schaffen, Beziehungen aufbauen. Vor allem aber wollte ich zeigen, dass diese Menschen einfach nur Menschen sind – und dass das Leben nicht stillsteht. Manche Leben fühlen sich unruhig an, andere fast zu leicht – und genau das ist der Punkt: Das Leben ist chaotisch, vielfältig und unvorhersehbar.
Und natürlich konnte ich es mir nicht verkneifen, auch ein paar Albernheiten einzubauen.

Francesca: Wir wollten die Menschen, die hier leben und arbeiten als Menschen zeigen, ohne politische Attribute und Vorurteile.
Pascale: Und es war uns wichtig, sie nicht zur Schau zu stellen oder zu ihrer Diskriminierung beizutragen.
Sofiia: Ich wollte vermeiden, dass das Buch übermässig dramatisch, politisch oder von Mitleid getrieben wird. Es ging mir nicht darum, das Leiden hervorzuheben oder grosse Aussagen zu machen, sondern einfach das Alltägliche festzuhalten. Das Buch ist als eine Zusammenfassung von Geschichten, Erinnerungen und Menschen aus dem wirklichen Leben entstanden. Die Szenen wurden von Dingen inspiriert, die ich gesehen oder gehört habe. Vieles wird mit Humor oder Ironie dargestellt, nicht um zu spotten, sondern um zu vermenschlichen. Ich wollte nichts erklären oder moralisieren, sondern das Leben so wiedergeben, wie es sich anfühlt: vielschichtig, seltsam und manchmal lustig.

Francesca: Weil sich die Menschen, die in einer Kollektivunterkunft untergebracht werden «in limbo» befinden, weder hier noch dort. Der Status S, der den Menschen aus der Ukraine hier als Aufenthaltsstatus gegeben wird, ist ein rückkehrorientierter Status, wir gehen davon aus, dass sie nach Kriegsende zurückkehren. Sie sind hier als Gäste geduldet, dürfen hier leben und arbeiten, aber Wurzeln schlagen sollen sie nicht. Die Menschen mit Status N, die hier untergebracht waren, warten noch auf Ihren Asylentscheid, das heisst, auch sie wissen (noch) nicht ob sie hier bleiben dürfen oder nicht. Der Aufenthalt in der Siedlung ist deshalb für alle eine Zwischenwelt, zwischen der alten Heimat und dem Ort, an dem sie sich eventuell künftig zuhause fühlen sollen oder wollen.
Sofiia: Dieses Gefühl, nicht ganz angekommen zu sein, zwischen den Welten zu schweben, ist etwas, das ich sehr gut nachempfinden kann. Und ich sah, dass es sich in den Menschen und Räumen widerspiegelte, die ich zeichnete. Es ist ein Titel, der sowohl ihre als auch meine Geschichten anspricht.

Sofiia: So realistisch wie ein Wimmelbuch sein kann, ja. Viele Szenen basieren auf realen Geschichten, Erinnerungen und Momenten, die ich beobachtet oder von anderen gehört habe. Natürlich sind einige Dinge spielerisch oder übertrieben dargestellt – denn ich wollte auch Raum für Fantasie, Humor und ein bisschen Skurrilität lassen. Meine Erfahrung mit Kollektivunterkünften beruht hauptsächlich auf der Arbeit mit Kindern, so dass diese «kindliche » Sichtweise – neugierig , offen, manchmal absurd – in das Buch eingeflossen ist. Gleichzeitig fügte ich ein paar meiner eigenen Wünsche hinzu – kleine «Was wäre wenn?». Nicht um zu idealisieren, sondern um davon zu träumen, wie sich diese Orte ein bisschen mehr wie zu Hause anfühlen könnten. Es ist eine Mischung aus dem, was ist, und dem, was sein könnte – die Realität durch eine hoffnungsvolle, fantasievolle Linse gesehen.
Francesca: Auf alle Fälle gelingt es Sofiia, die Menschen sehr lebendig, resilient und um ihre Zukunft und ihr Leben kämpfend wiederzugeben und nicht nur als Opfer. Das gefällt mir und bringt die Sache auf den Punkt.

… Probleme mit Ameisen oder Mäusen? Haustiere (Hunde, Katzen)? Quartierfeste und persönliche Kontakte mit der Schweizer Bevölkerung (Deutschkurs, Gespräche auf der Strasse etc.)? Ägyptische Sarkophage? Schule im Freien? Yoga-Kurs? Das schwarze Brett?

Francesca: Das einzige, vom dem ich nichts mitgekriegt hätte, ist der Sarkophag, alles andere gibt und gab es.
Pascale: Cocktail trinkenden Menschen im Liegestuhl begegnen wir schon eher selten…

Sofiia: Das Wort «alien» wird im Englischen auch für Neuankömmlinge oder Ausländer verwendet, was irgendwie passt. Für mich sind die Aliens eine Art Allegorie. So wie wir Ukrainer*innen in der Schweiz angekommen – und geblieben oder weitergezogen sind. Und Tiere finde ich ehrlich gesagt einfach niedlich und lustig. Ich liebe es, wie sie sich in die Szenen schleichen. Besonders die schwarze Katze Muk, die sich auf jeder Seite versteckt. Es ist wie ein Running Gag mit sich selbst. Man kann Muk überall entdecken, wenn man genau hinschaut – und das macht das Buch lebendig.
Francesca: Tiere gab und gibt es tatsächlich viele, die Ukrainer*innen durften mit ihren Haustieren einreisen. Ich hätte gedacht, dass die Aliens die «Geister» symbolisieren, welche die Menschen in ihren Träumen (oder Traumen) heimsuchen.

Sofiia: Nun, es ist kein grosses Geheimnis, welcher Laden gemeint ist, es wurde ja nur ein Buchstabe im Namen geändert… Alle Ukrainer*innen, alle geflüchteten Menschen, die in Bern leben, kennen diesen Ort. Jedes Mal, wenn ich vorbeikomme, treffe ich Leute, die ich kenne. Es ist nicht nur ein Laden, es ist ein kultureller Begegnungsort. Für viele Menschen, die in Kollektivunterkünften leben, gehört er zum Alltag.
Pascale: Die Kollektivunterkunft ist kein Restaurant, die Bewohnenden führen ihren eigenen Haushalt, es muss also eingekauft werden. Der Lidl am Bahnhof ist günstig und kommt dem kleinen Budget der Bewohnenden entgegen.

Fragen zum Alltag in einer Kollektivunterkunft

Pascale: Menschen mit unterschiedlicher Herkunft, Alter, sozialem Status, aus der Grossstadt, vom Land, mit den unterschiedlichsten Ressourcen, vulnerable Menschen, Familien, Einzelpersonen, Paare etc. In der Temporären Unterkunft Viererfeld sind es zu 95 Prozent Menschen mit Schutzstatus bzw. aus der Ukraine.

Francesca: Asylsuchende kommen nach ihrem Aufenthalt in den Bundesasylzentren zunächst in Kollektivunterkünfte. Dort müssen sie auf einer Integrationsagenda zunächst beweisen, dass sie wohnfähig sind und über ein bestimmtes Deutschniveau verfügen, erst danach wird ihnen erlaubt, eine eigene Wohnung oder Arbeit zu suchen. Die Geflüchteten mit Status S werden diesbezüglich, weil es sich um einen rückkehrorientierten Status handelt, anders behandelt. Ihnen ist es nach Erhalt des Status erlaubt, sofort eine eigene Wohnung und Arbeit zu suchen. Letzteres gelingt jenen mit einem guten Bildungsrucksack, gesunden, jungen, resilienten Personen. Mehr Mühe dabei haben alleinerziehende Mütter, Alte und Kranke. Sie bleiben oft länger als die im Konzept veranschlagten drei Monate in der temporären Unterkunft. Bei Personen aus anderen Herkunftsländern als der Ukraine ist die Dauer des Verbleibs neben ihren eigenen Integrationsanstrengungen vor allem davon abhängig, wie lange das SEM hat, um abzuklären, welchen Status man ihnen erteilen will. Also, ob ihr Asylgesuch angenommen oder abgelehnt wird, oder ob sie eine vorläufige Aufnahme erhalten. Es können auch mal zwei oder sogar drei Jahre werden.

Francesca: Schwierig ist für viele hier, dass sich ihr Schicksal vollständig in den Händen anderer befindet. Dass sie nicht beeinflussen können, ob und welchen Status sie erhalten werden. Das Warten und zum Nichtstun verurteilt zu sein zermürbt sie. Auch die Enge der Unterkunft, die Dichte des Zusammenlebens, der Mangel an Privatsphäre ist nicht für alle gleich erträglich. Kinder kommen damit in der Regel besser klar als die Erwachsenen. Aber insgesamt überrascht mich immer wieder die Resilienz, die sich bei vielen Menschen hier zeigt.
Pascale: Eine weniger positive Überraschung für mich war, dass Streit, Missgunst und Diskriminierung auch zwischen den Menschen hier vorkommen, obwohl sie ganz ähnliche Fluchterfahrungen teilen. Meistens erlebe ich aber eine hohe Solidarität und dass sich die Bewohnenden gegenseitig unterstützen.

Pascale: Regeln sind immer notwendig, wenn viele Menschen auf engem Raum zusammenleben.
Francesca: Auf jeden Fall. In der Temporären Unterkunft Viererfeld gilt eine Hausordnung – siehe Link – in Piktogrammen, damit alle sie verstehen.

Pascale: Als Schulleiterin ist es meine Aufgabe, sicherzustellen, dass es eine Schulstruktur gibt, die den Schüler*innen ihr Recht auf Bildung gewährleistet, wo sie Deutsch lernen können und auf das Regelschulsystem vorbereitet werden.
Sofiia: Meine Aufgabe als Klassenassistentin ist es, die Kinder zu unterstützen – emotional, sozial und sprachlich. Ich helfe ihnen zu verstehen, was im Unterricht passiert, übersetze, wenn möglich, und sorge dafür, dass sie sich sicher und einbezogen fühlen. Manchmal geht es darum, ihnen bei den Schularbeiten zu helfen, ein anderes Mal bin ich einfach nur da und höre zu.
Francesca: Als Betriebsleiterin obliegt mir die Umsetzung des Mandats, das wir von der Stadt Bern in Bezug auf die Unterbringung der Asylsuchenden in der 1. Phase haben. Ich bin also verantwortlich für das gesamte eingesetzte Personal der Heilsarmee, welche die Unterkunft im Auftrag des Kantons Bern betreibt. Daneben koordiniere ich den Betrieb mit anderen involvierten Institutionen wie der Schule, dem Sicherheitsdienst oder den Verantwortlichen für die Quartierarbeit. Ich bin der Stadt und dem Kanton rechenschaftspflichtig, sowie natürlich intern der Heilsarmee. Zudem übernehme ich die Koordination all jener Aktivitäten, die wir zusätzlich und ausserhalb des Mandats der Stadt Bern angeboten haben, wie etwa den Kinderhütedienst, die Hausordnung in Piktogrammen, den walk-in Alphabetisierungskurs oder die Aussenraumgestaltung, für die meist zusätzliches Fundraising nötig war.

Francesca: Wir haben durchwegs gute Erfahrungen gemacht – mit Ausnahme vielleicht von jenen, die bei jeder Gelegenheit «20 Minuten» angerufen haben.

Pascale: Das Gleiche wie auch sonst an Schulen ;-). Vielleicht mit dem grossen Unterschied, dass die Schüler*innen in der Regel sehr motiviert sind, zur Schule zu kommen, weil sie sonst nicht viel zu tun haben in einer Kollektivunterkunft und auch kein Budget für Freizeitaktivitäten vorhanden ist.
Sofiia: Ganz viel Improvisation – und ganz viel Arbeit. Die Kinder kommen mit so vielen verschiedenen Geschichten. Es ist selten einfach, aber die Kinder sind voller Energie und Menschlichkeit. Manche Tage sind chaotisch, manche ruhig und produktiv.

Sofiia: Hilfreich sind Spiele und das Zeigen auf Dinge – und Kreativität. Am Anfang waren «Kahoot» und «Anton» die Retter in der Not. Wir haben auch viel mit Bildern und Handgesten gearbeitet.
Pascale: Neben Visualisieren und Gestik ist wichtig, dass wir den Kindern Strategien zum Erlernen einer Sprache vermitteln und Sprachstrukturen aufzeigen. Deutsch wird über die Zeit zur geteilten Sprache.

Pascale: Ja, ich denke schon. Kinder sind meist stärker im Hier und Jetzt, und wenn ein Austausch oder Spielen mit Gleichaltrigen stattfinden kann, kehrt schneller eine gewisse «Normalität» ein.
Francesca: Ich sehe es auch so, die Resilienz von Kindern ist grösser, demgegenüber fehlt ihnen jedoch das Vermögen, die neue Situation überhaupt zu kontextualisieren.

Sofiia: Dass sie nicht allein sind. Dass es in Ordnung ist, dazwischen zu sein, sich verloren oder unsicher zu fühlen. Ich möchte, dass sie wissen, dass sie gesehen werden, dass ihre Geschichten wichtig sind und dass es in Ordnung ist, sich Zeit zu nehmen, um Dinge herauszufinden.
Pascale: Respekt, Toleranz, wir sind alle «gleich». Auch wenn sie sich in einer sehr schwierigen und wir uns in der Schweiz in einer sehr privilegierten Situation befinden.

Findest du Robert, Ali, Mariia, die Katze Muk und die verlorene Socke im Wimmelbuch?

Das schwarze Brett ist ein Dreh- und Angelpunkt in der Kollektivunterkunft, wo die Bewohnenden Informationen für ihren neuen Alltag finden und im Kleinen sichtbar wird, was alles läuft.

Schau gut hin: Alle Gegenstände, Personen und Tiere, die das schwarze Brett auf dem Wimmelbuch-Cover bevölkern, kannst du im Wimmelbuch wiederfinden. So kannst du beispielsweise die drei Familien auf den Fotos in der Bildmitte auf jeder Doppelseite begleiten – bei ihrer Ankunft in der Kollektivunterkunft, im Austausch mit anderen Bewohnenden, beim Spielen, in der Schule, bei Haushaltsarbeiten und beim Einkaufen. Und wer tummelt sich an den Veranstaltungen, die auf dem Infobrett angekündigt sind?

Projektpartner*innen

Das Wimmelbuch ist in Kooperation mit der Temporären Unterkunft Viererfeld, der Stadt Bern und der Betreiberin der Unterkunft, Stiftung Heilsarmee Schweiz, entstanden.

Für die Zusammenarbeit und Unterstützung danken wir der Stiftung Heilsarmee Schweiz, dem Schulamt der Stadt Bern, der Bildungs- und Kulturdirektion des Kantons Bern und dem Verein Ukraine-Hilfe Bern.

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